| Franz Bittner

Schmerztherapie

„Die Sicherstellung einer adäquaten Schmerztherapie ist ein grundlegendes Menschenrecht. In Österreich fehlen dazu die Strukturen. Es gibt zu wenige Schmerzeinrichtungen, die eine interdisziplinäre und multimodale Schmerzbehandlung anbieten. Eine adäquate, für jeden zugängliche Schmerzversorgung führt nicht zu einer Belastung des Gesundheitssystems. Wie Beispiele aus europäischen Ländern zeigen, können Kosten durch Reduktion von Arbeitsausfällen und Frühpensionen reduziert werden.“

OA Dr. Wolfgang Jaksch
Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft

Bittner: Warum haben wir schmerztherapeutische Versorgungsdefizite in Österreich?
Jaksch: Einsparungen in Milliardenhöhe, mangelnde Personalressourcen durch die Umsetzung der EU-Verordnung aus dem Jahr 2003 bezüglich Reduktion der Arbeitszeiten von Klinikärzten auf 48 Wochenstunden sind willkommene Argumente im österreichischen Gesundheitswesen, Leistungen zu reduzieren. Zusätzlich tragen zersplitterte Kompetenzen, konkret Krankenhauserhalter, Sozialversicherungen, Ärztekammer und Pensionsversicherung dazu bei, dass direkte und indirekte Kosten, verursacht durch chronische Schmerzpatienten, nicht in ihrer gesamten Dimension gesehen und beurteilt werden.
In einer der letzten Ausgabe von "Der Schmerz" wurden die Auswirkungen auf schmerztherapeutische Einrichtungen in den letzten drei Jahren anschaulich dargestellt und massive Defizite in der Versorgung aufgezeigt. Trotzdem muss angenommen werden, dass die Unterversorgung an interdisziplinär geführten Schmerzambulanzen mit multimodalem Therapieangebot die Ergebnisse noch weit übersteigt.

Bittner: Gibt es ein Beispiel?
Jaksch: Als Beispiel möchte ich Niederösterreich, mit mehr als 1,6 Mio. Einwohnern herausgreifen. In der Arbeit von Univ. -Prof. Dr. Sandner-Kiesling wird diesem Bundesland die größte Diskrepanz beim Verhältnis vorhandener zu notwendigen Schmerzambulanzen attestiert. Nach aktuellem Stand (10/2015) bieten fünf Schmerzambulanzen insgesamt 64 Wochenstunden für Schmerzpatienten in diesem Bundesland an. Die Öffnungszeiten reichen von 3 über 4,5 und 12 bis maximal 32,5 h pro Woche. Optimistisch gesehen, kann angenommen werden, dass gerade eine Einrichtung annähernd die international geforderten Kriterien erfüllt.
Schon die Hochrechnung der in Österreich vorhandenen Schmerzambulanzen, basierend auf den wöchentlichen Gesamtarbeitsstunden (40 h = 1 Schmerzambulanz), auf 17,5 zeigt ein dramatisches Defizit, verzerrt jedoch die reale Situation. Mehrere Einrichtungen mit wenigen Wochenstunden ergeben nicht zusammen eine Schmerzambulanz, die nur annähernd geforderte Kriterien erfüllt. Es ist traurige Tatsache, dass in Österreich gerade eine multimodale Schmerztagesklinik besteht, die jedoch – zeitlich begrenzt – im Rahmen eines Reformpoolprojekts finanziert wird.

Bittner: Was sind die Gründe für die Unterversorgung?
Jaksch: Ein zentrales Problem ist, dass es bisher nie einen Top-down-Prozess für eine strukturierte Planung der Versorgung gegeben hat, der auch ausreichende gesundheitspolitische Unterstützung genossen hätte. Vorhandene Strukturen wie spezialisierte Schmerzambulanzen oder Akutschmerzdienste in Krankenhäusern basieren bisher in erster Linie auf dem persönlichen Engagement Einzelner.
Aufgrund von mangelnden Zeit- und Personalressourcen drohen solche Strukturen allerdings derzeit immer mehr zusammenzubrechen. Laufend werden Schmerzambulanzen geschlossen und Leistungen reduziert. Dies ist umso leichter, da es ja in den überwiegenden Fällen nie einen gesundheitspolitischen Auftrag gegeben hat.
Eine Folge sind inakzeptable, lange Wartezeiten, aufgrund derer niedergelassene Kollegen eine Überweisung von Patienten, die von einer solchen Einrichtung profitieren würden, gar nicht erst ins Auge fassen.

Bittner: Wie sieht die Situation bei den Hausärzten aus?
Jaksch: Die Ordinationen im niedergelassenen Bereich können die entstehenden Engpässe nicht kompensieren: Zum einen ist die Zahl der niedergelassenen Kassenärzte im Verhältnis zur Bevölkerung rückläufig. Zum anderen sind die Diagnostik und Therapie von Patienten mit chronischen Schmerzen zeitlich aufwendig. Dieser Aufwand wird von den Krankenkassen nicht annähernd abgegolten. Schmerztherapie ist de facto im Leistungskatalog der Krankenkassen für Allgemeinmediziner nicht abgebildet.
Daneben darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch erhebliche Defizite in der Ausbildung zur Schmerztherapie in Österreich bestehen. An keiner medizinischen Universität wird Schmerzmedizin nach dem Vorbild Deutschlands als Querschnittsfach unterrichtet. Wenige Allgemeinmediziner haben das postgraduelle Ärztekammerdiplom „Spezielle Schmerztherapie“ absolviert. In Niederösterreich kommen beispielsweise über 22.000 Einwohner auf einen Allgemeinmediziner mit Schmerzdiplom (n = 72, Stand November 2014). Für die Patienten hat all dies dramatische Konsequenzen. Im Durchschnitt werden acht Ärzte pro Jahr von betroffenen Patienten konsultiert, und bis zur Diagnose einer chronischen Schmerzerkrankung dauert es im Schnitt 1,7 Jahre und was noch schlimmer ist, etwa 18 % der Patienten bekommen überhaupt nie eine Diagnose.
Es fehlt also eine strukturierte Schmerzversorgungspyramide, die eine sinnvoll abgestufte Versorgung vom Hausarzt über den spezialisierten Schmerzmediziner und die Schmerzambulanz bis zur bettenführenden Schmerzabteilung oder das spezialisierte Schmerz-Rehazentrum umfasst.

Bittner: Welche Lösungsansätze gibt es aus ihrer Sicht?
Jaksch:  Von „bottom up“ zu „top down“ Entscheidend wäre die strukturelle Verankerung der Schmerztherapie im Gesundheitssystem. In Zeiten von Ressourcenknappheit stehen Einzelinitiativen auf verlorenem Posten. Vorbild könnten andere europäische Länder sein. Italien hat mit seinem – bereits 2010 beschlossenen – Gesetz Nr. 38 („Legge 38“) die Grundlage für wesentliche strukturelle Verbesserungen in der schmerzmedizinischen Versorgung gelegt.
Es räumt den Bürgern das Recht auf palliativ- und schmerzmedizinische Versorgung ein und verpflichtet die italienischen Regionen, flächendeckend schmerzmedizinische und palliativmedizinische Angebote zu etablieren.
Vorbildlich ist der Weg, den das belgische Gesundheitsministerium vor mehr als zweieinhalb Jahren eingeschlagen hat: 34 spezialisierte Einrichtungen, geografisch durch das gesamte Land verteilt und in Krankenhäusern angesiedelt, wurden im Zuge eines Akkreditierungsverfahrens als „multidisziplinäre Schmerzzentren“ anerkannt und qualifizierten sich damit für eine zusätzliche öffentliche Finanzierung.
Ihre Aufgabe ist die Behandlung von chronischen und in bestimmten Fällen subakuten Schmerzen auf ambulanter und stationärer Basis. Als Voraussetzung für die Anerkennung waren zahlreiche Qualitäts- und Strukturkriterien zu erfüllen, darunter eine anspruchsvolle personelle Ausstattung mit Angehörigen unterschiedlicher medizinischer Fächer und nichtärztlicher Gesundheitsberufe, die zur multidisziplinären Schmerztherapie beitragen können – ein Beispiel für eine sehr gelungene Top-down-Planung in einem europäischen Land, das hinsichtlich Größe und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit mit Österreich durchaus vergleichbar ist.

Bittner: Wie sehen die Perspektiven in Österreich aus?
Jaksch: Aktuell gibt es einen kleinen Hoffnungsschimmer aufgrund zweier parlamentarischer Initiativen der Grünen. Ein Antrag, in dem die Bundesministerin für Gesundheit ersucht wird, die Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) mit der Grundlagenarbeit für Bundesqualitätsstandards zur Verbesserung der Versorgung von Schmerzpatienten in Österreich zu beauftragen. Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen.
Die Österreichische Schmerzgesellschaft (ÖSG) hat bereits im vorigen Jahr mit Grundlagenarbeiten auf Basis des schon vor mehr als sieben Jahren vorgelegten Konzeptes der ÖSG und des im Juli 2015 veröffentlichten Deutschen Konsensus „Klassifikation schmerzmedizinischer Einrichtungen“ begonnen.
Der zweite Antrag zur Verbesserung der stationären Versorgung von Schmerzpatienten in Form von vermehrten Bettenkapazitäten und der Etablierung von Stationen in qualifizierten Schmerzzentren konnte keine Mehrheit erzielen.
Das zeigt die klare Tendenz, dass alles, was unmittelbar Kosten verursacht, abgelehnt wird.
Es gibt aber erfreulicherweise auch immer noch Eigeninitiativen auf „Bottom-up-Basis“. Durch persönliches Engagement von Frau OÄ Dr. Janina Dieber konnte im Landeskrankenhaus Hartberg eine interdisziplinäre Schmerzambulanz inklusive Kooperation mit dem Ärztenetzwerk „styriamed.net“ der Region Hartberg/Fürstenfeld aufgebaut werden – ein beachtenswertes Beispiel für gelungene Zusammenarbeit über Ortsgrenzen hinweg zwischen mehr als 40 niedergelassenen Allgemein- und Fachmediziner/ innen und einer Schmerzambulanz.
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Befunderhebung durch Austausch der Patientendaten sowie eine ausgelagerte multimodale Therapie ist seit drei Jahren erfolgreich und hat nun auch die Aufmerksamkeit der steirischen Ärztekammer gefunden. Zu Recht wurde dieses Projekt aktuell mit der „Goldenen Dolores“ ausgezeichnet, einem erstmals vergebenen Förderpreis der überparteilichen Plattform „Allianz Chronischer Schmerz“ (www.schmerz-allianz.at), zusammengesetzt aus 35 Selbsthilfegruppen.
Auch die Erhebung der Schmerzsituation von stationären Patienten in zwei österreichischen Krankenhäusern mit etablierter Schmerzversorgung kam zu einem mehr als respektablen Ergebnis und übertraf in der Effektivität vergleichbare internationale Daten.
Es ist also keineswegs notwendig, das Rad neu zu erfinden, wenn wir den vielen Menschen in Österreich, die an chronischen Schmerzen leiden, endlich eine bessere Versorgung anbieten wollen.
Wir können auf intensive Vorarbeiten im Land und internationale Modelle aufbauen. Nun braucht es endlich den politischen Willen, dies auch umzusetzen.

Dr. Wolfgang Jaksch ist Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft, Autor zahlreicher Publikationen zum Thema Schmerz und OA an der Abteilung für Anästhesie, Intensiv- und Schmerzmedizin im Wilhelminenspital der Stadt Wien.