850.000 Menschen sind in Österreich von Diabetes betroffen und es werden immer mehr. Die Entwicklung ist alarmierend. Auf Einladung der Mediengruppe Österreich diskutierten Dr. Norbert Jachimowicz, Prim. Dr. Claudia Francesconi, Univ.-Prof. Dr. Peter Fasching, Dr. Peter Grabner sowie der Diabetespatient Helmut Badjura unter der Moderation von Patientenombudsmann Franz Bittner über Diabetes – warum ist die Erkrankung am Vormarsch, wie kann man Diabetes eindämmen und wie können Betroffene besser versorgt werden.
Franz Bittner: Sind Diabetiker in Österreich gut betreut?
Helmut Badjura: Das muss man differenziert betrachten, ob es Typ 1 Diabetiker oder Typ 2 Diabetiker sind. Die Typ 1 Diabetiker sind recht gut versorgt. Als Typ 2 Diabetiker einen kundigen, geeigneten Arzt zu finden ist schwierig. Der Zugang zu einer guten Patientenversorgung ist eher dem Zufall überlassen.
Dr. Norbert Jachimowicz: Prinzipiell ist zu sagen, dass es kaum ein Fachgebiet gibt, bei dem es so viele Fortbildungsangebote gibt, wie bei Diabetes mellitus. Diese Veranstaltungen werden von Ärzten und Ärztinnen auch gut besucht. Das Problem ist, wie kommt dieses Wissen zum Patienten? Der Schwerpunkt der Therapie liegt – unabhängig von den notwendigen Medikamenten – definitiv auf dem Bewegungssektor und weniger auf dem Ernährungssektor.
Dr. Peter Fasching: Wir wissen nicht, wie gut die Qualität der Betreuung ist. In den Spitälern ist aufgrund der Arbeitszeit-Gesetzgebung ein Umbruch erfolgt. Es haben sich die Zeitressourcen der Ärztinnen und Ärzte verringert. Da der Diabetes in seiner spezialisierten Form meist von den Spitälern als Ambulanzleistung angeboten wird, kommt es zu Reduktionen. Man muss darauf schauen, dass die Betreuung von Patienten mit chronischen Erkrankungen, wie die der Diabetiker, nicht untergeht.
Dr. Claudia Francesconi: Die derzeitige medizinische Behandlung kann nicht heilen. Aber sie kann, wenn sie rechtzeitig erfolgt, zusätzliche Beschwerden reduzieren. Wenn ich von einem frisch manifestierten Diabetiker ausgehe, der in der extramuralen Versorgung vom praktischen Arzt sofort auf eine Rehabilitation geschickt wird, dann hat der Diabetiker die Möglichkeit eine Schulung, eine gute diabetische medikamentöse Therapie und Verhaltensmaßnahmen, die ins Bewusstsein des Patienten eindringen, zu erhalten.
Dr. Grabner: Beides stimmt. Natürlich ist der Heilmittelkodex ein Regelwerk und die Regeln werden nicht im stillen Kämmerlein des Hauptverbandes gemacht. Sie werden aus Studien abgeleitet und werden mit den Firmen im Zuge des Aufnahmeverfahrens entwickelt. Das hat den Sinn, dass es einen kontrollierten, dosierten Zugang zu Medikamenten gibt und nicht gleich am Beginn der Therapie die teuersten Medikamente Verwendung finden. Die Zahlen zeigen, dass Diabetes behandelbar, aber leider noch nicht heilbar ist und sie zeigen auch, dass Diabetiker nicht immer gut behandelt werden. Sie könnten besser behandelt werden.
Bittner: Wäre es nicht vernünftiger die Ressourcen, die wir für diese Erkrankung aufwenden, in Diabetes-Zentren zu verlagern?
Dr. Francesconi: Es geht um die Frage: Hat der Allgemeinmediziner oder Internist in seiner Ordination überhaupt die notwendige Zeit, einen Diabetiker intensiv zu behandeln? Es geht nicht nur um das Wissen über die Erkrankung, sondern auch um Erfahrung und die nötige Empathie für die Betroffenen. Auch bei den Medikamenten muss man Erfahrung erwerben. Die Wirkungsweise am Papier ist oft eine andere als am Patienten selbst. Diese Erfahrungen bekommt man nur, wenn man viele Diabetiker behandelt. Wenn man es den niedergelassenen Ärzten ökonomisch ermöglichen würde, hauptsächlich Diabetiker zu betreuen, dann würden sich Ärzte finden, die das auch gerne machen. Um die Frage kurz zu beantworten: Zentren und Gruppenpraxen mit der geeigneten Infrastruktur, ja, Einzelkämpfer, der hin und wieder einen Diabetiker behandelt, nein.
Dr. Jachimowicz: Niedergelassene Diabetologen mit Kassenvertrag gibt es keine, weil das Kassensystem keine Finanzierung dafür vorsieht.
Bittner: Steigen die Patientenzahlen in den Spitalsambulanzen, und wenn ja, ist das zu bewältigen?
Dr. Fasching: Meiner Erfahrung nach waren die Ambulanzfrequenzen – aufgrund der vorhandenen Ressourcen – im letzten Jahr eher rückläufig. Man hat das so bewältigt, dass man die Patienten auf längere Intervalle verteilt oder zum Teil auch an den niedergelassenen Bereich zurückgegeben hat. Ich bin der Meinung, dass wir in Österreich ein sehr gutes Gesundheitssystem haben, welches im Wesentlichen auf den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten ruht. Ich sehe die kommenden Probleme darin, dass es immer mehr ausgedünnt wird. Die sogenannte Praxiskrankenschwester, die in England und Amerika gepusht wird, kann aus meiner Sicht nicht das Nachfolgemodell der Allgemeinmediziner sein. Es muss uns bewusst sein, dass der Allgemeinmediziner mehr Zeitressourcen benötigt.
Bittner: Ist es für den Patienten möglich, nicht nur durch Medikation, sondern durch vermehrte Bewegung und gezielte Ernährung seinen Zustand zu verbessern?
Dr. Fasching: Das geht nicht bei jedem. Je früher der Diabetes entdeckt wird und je jünger der Mensch ist, desto eher hat man die Chance ihn wieder rückzuführen.
Bittner: Wäre eine Betreuung der Patienten durch den eigenen Versicherungsträger nicht wünschenswert?
Dr. Grabner: Aus unserer Sicht kann man das nur unterstreichen. Warum sind wir in einer Sonderstellung? Wir sind ein sogenannter „Allspartenträger“. Das heißt, wir haben Kranken-, Pensions- und Unfallversicherung unter einem Dach. Bei uns ist der Versicherte im Idealfall sein ganzes Leben durchversichert. Bei uns gibt es keine Schnittstellenprobleme zwischen den Versicherungen, daher können wir in unseren Einrichtungen Diabetiker optimal schulen, einstellen und betreuen.
Bittner: Hat der Patient ausreichend Zugang zu Informationen?
Helmut Badjura: Ja, aber die Frage ist, ob der Patient diese wichtigen Informationen auch findet.
Dr. Francesconi: Ja, hat er definitiv. Es ist nicht nur eine Frage des Findens, sondern auch des Zuhörens und des Verstehens. Ich denke, dass es nicht zwingend notwendig ist, dass der Diabetiker einmal in der Woche seinen Arzt sieht. Die Chemie zwischen Arzt und Patient muss stimmen. Man muss ihn soweit bringen, dass er seinen Arzt versteht, zuhört und seine eigene Kompetenz wahrnimmt. Wenn der Patient das verstanden hat, warum das für sein weiteres Leben wichtig ist, dann ergreift er selbst die Initiative. Patienten benötigen eine gute Beziehung zu ihrem Arzt. Denn wir verlangen vom Patienten sehr viel. Dass er weniger isst, dass er sich mehr bewegt. Daher ist gerade die psychologische Unterstützung durch den Arzt wichtig.
Bittner: Dr. Fasching, gibt es von Ihnen als Verantwortlicher einer sehr großen Abteilung eines Spitals, Forderungen an die politisch Verantwortlichen im Gesundheitswesen?
Dr. Fasching: Wir brauchen den Allgemeinmediziner auch in Zukunft, weil die Menschen nicht nur monokausal erkrankt sind. Sechzig Prozent der an Diabetes erkrankten Menschen sind älter als 65. Man kann den Menschen weder jetzt noch in Zukunft auf Einzelerkrankungen fraktionieren. Man benötigt den Blick auf das Gesamte – auf die komplexe Finanzierung unseres Gesundheitssystems. Zwischen Allgemeinmedizinern und Spital agieren die Internisten, die spezielle Probleme behandeln und sich nicht mit allen Details auseinandersetzen können. Die Vertragsärzte werden von den Kassen finanziert, der Spitalsbereich nur zum Teil. Für die Sozialversicherung ist es derzeit billiger, wenn die Menschen in den Spitalsambulanzen behandelt werden, statt bei den Vertragsärzten. Würden die Krankenversicherungen auch die Krankenhäuser und deren Ambulanzen finanzieren, dann fänden die Behandlungen am Patienten dort statt, wo sie medizinisch und ökonomisch sinnvoll erbracht werden könnten. Daher wäre mehr Ehrlichkeit im System gefragt. Wenn die Spitalsträger für die ambulante Schulung und Betreuung auch den realen Tarif abgegolten bekämen, wäre es leichter zu kalkulieren wie viel Personal benötigt wird, um die notwendigen Leistungen anbieten zu können.
Bittner: Hat der niedergelassene Bereich Forderungen an die Politik?
Dr. Jachimowicz: Wir wollen erreichen, dass möglichst wenige Menschen an Diabetes erkranken. Das kann man nur dann erreichen, wenn schon vor der Manifestation die Krankheit verhindert wird. Wir müssen die Bewegung forcieren und den Sportunterricht für unsere Kinder ausweiten. Diabetes zu verhindern ist eine soziale und gesellschaftspolitische Maßnahme.
Bittner: Kann man überhaupt Maßnahmen setzen, um kein Diabetes zu bekommen?
Dr. Grabner: Hilfe kann man nur in der Form geben, dass wir unseren Versicherten Unterstützung anbieten. In Österreich gibt es zu viele dicke Kinder. Diese Kinder sind die nächste Welle an Diabetikern, die auf uns zukommt. Unsere Gesellschaft leidet unter Bewegungsmangel, dagegen sollte vorgegangen werden.
Dr. Francesconi: Ich meine, dass der Gesetzgeber gefordert wäre Dinge umzusetzen, die international schon umgesetzt sind. Zum Beispiel die Rauchfreiheit in Österreich. Es ist einer der größten gefäßschädigenden Faktoren beim Diabetiker. Zigaretten rauchen führt zu Insulinresistenz und verschlechtert die Glucosetoleranz. Das Gleiche gilt für den Zuckergehalt diverser Nahrungsmittel. Da kann der Gesetzgeber eingreifen. Bewegung von Kindheit an ist zu fördern. Wenn 150 Minuten Bewegung pro Woche umgesetzt würden, erreicht man einen Fitnesslevel, der einen 40-prozentigen Schutz vor Herzinfarkten bietet. Das ist besser als jedes Medikament!
Die Experten-Runde:
Helmut Badjura: Der Angestellte (VAEB-Mitarbeiter) erkrankte in jungen Jahren an Diabetes mellitus Typ 1.
Univ.-Prof. Dr. Peter Fasching: Vorstand der 5. Medizinischen Abteilung (mit Endokrinologie), Wilhelminenspital
Prim. Dr. Claudia Francesconi: ist ärztliche Direktorin im PVA Rehabilitationszentrum Alland/ Niederösterreich
Dr. Peter Grabner: ist Chefarzt der VAEB (Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau).
Dr. Norbert Jachimowicz: Allgemeinmediziner in Wien mit den Spezialgebieten Ernährungsberatung und Diabetologie