Wer einen Arzt benötigt, den kann der Weg künftig in ein Primary Healthcare Center (PHC) führen. Bis zum Jahr 2012 sollen österreichweit 75 solche Einrichtungen entstehen und als Erstanlaufstelle die Versorgung der Patienten außerhalb der Spitäler übernehmen. Befürworter betonen, dass sich damit das Angebot für die Versichtern verbessere. Kritiker fürchten unter anderem um die wohnortnahe Versorgung. Franz Bittner, Wiener Patientenombudsmann, und Dr. Johannes Steinhart, Vizepräsident der Wiener Ärztekammer und Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte, sprechen im Interview über die Herausforderungen in der Primärversorgung und die Notwendigkeit, die Spitalsambulanzen zu entlasten. Außerdem plädieren sie für eine bessere Ausbildung der Allgemeinmediziner.
Das viel diskutierte Primärversorgungsgesetz wurde Ende Juni beschlossen. Herr Bittner, wie stehen Sie dazu?
Franz Bittner: Ich betrachte das aus Sicht der Patienten und stehe dem PHC-Gesetz grundsätzlich positiv gegenüber. Ich hätte mir aber vorgestellt, dass man in Zukunft auch zusätzlich einen Internisten in dieses Team hineinnimmt. Das ist derzeit nicht vorgesehen. Das Ziel ist es aber, die Spitalsambulanzen zu entlasten. Deshalb glaube ich, dass das ohne eine medizinisch internistische Begleitung schwer machbar sein wird.
Herr Steinhart, die Ärztekammer ist mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden. Wo muss aus Ihrer Sicht nachgebessert werden?
Johannes Steinhart: Es gibt Rahmenbedingungen, die uns noch immer stören. Ein Beispiel ist das Rückkehrrecht. Hier erwarten wir, dass Ärzte, die sich für eine Primärversorgungseinrichtung entschlossen haben, wieder in einen Einzelvertrag zurückkehren können. Es ist auch noch immer nicht ganz klar, wie die Finanzierung geregelt ist. Wir verhandeln einen österreichischen Gesamtrahmenvertrag und müssen dann für die Länder eigene Länderrahmenverträge aushandeln. Es gibt noch viele Detailpunkte, die man nachkorrigieren muss – etwa wie man PHCs in den Stellenplan integriert.
Herr Bittner, können Sie die Einwände der Ärztekammer nachvollziehen?
Bittner: Die Ärztekammer hat mit Blick auf die Eigentumsverhältnisse der PHC durchgesetzt, dass diese von Ärztinnen und Ärzten oder von Einrichtungen wie etwa den Sozialversicherungen erhalten werden. Damit ist der größte Kritikpunkt berücksichtigt worden. Jetzt eine Änderung zu wünschen, ist viel zu früh und aus meiner Sicht sinnlos. Wenn diese Einrichtungen zumindest ein bis zwei Jahre arbeiten, dann weiß man was funktioniert und was nicht. Dann ist ein Relaunch, sei es auf der gesetzlichen oder auf der unternehmerischen Ebene, sinnvoll.
Die Primärversorgung gilt als wichtiges Anliegen der Ärztekammer. Mit dem PHC (Primary Helalthcare Center) Medizin Mariahilf und dem Primärversorgungszentrum Donaustadt gibt es bereits zwei Pilotprojekte. Welche Faktoren sind aus Ihrer Sicht für den Erfolg der PHC-Zentren entscheidend?
Steinhart: Ich möchte vorausschicken, dass eine Primärversorgung, wie sie jetzt argumentiert wird, sowieso erbracht wird. Wir haben 750 Allgemeinmediziner und ausreichend Fachärzte in der Stadt. Warum jetzt ein technischer Begriff benutzt wird, um Umbauten in der Organisation zu erreichen, darüber kann man streiten. Zu den Primärversorgungszentren: Mariahilf profitiert von der Lage und hat eine hohe Durchlaufquote an Laufkundschaft. Die zweite Primärversorgungseinheit im SMZ Ost dient ausschließlich der Entlastung der Aufnahmeeinheit des Spitals. Hier fangen wir bei null an. Mariahilf war eine bestehende florierende Gruppenpraxis. Wir schauen beides an.
Bittner: Mariahilf ist für die Patienten eine Verbesserung der Region und ein gutes zusätzliches Angebot, weil es längere Öffnungszeiten gibt und auch medizinisches Fachpersonal wie Psychotherapeuten, Physiotherapeuten und Sozialarbeiter. Das gleiche gilt für das SMZ Ost. Aber dort kann man unter Umständen wirklich eine Entlastung der Ambulanz erreichen, weil sich das PHC in der Nähe eines Schwerpunktkrankenhauses befindet.
Die Primärversorgungseinrichtungen sollen künftig als Erstanlaufstelle für Patienten dienen. Was ändert sich damit für die Patienten?
Bittner: Die Gruppenpraxis wird von zwei oder drei Allgemeinmedizinern betrieben. Weiters gibt es zusätzliches medizinisches Fachpersonal, das man in einer Einzelordination nicht in diesem Ausmaß vorfindet. Ich denke zum Beispiel an chronisch kranke Patienten, die mit Diabetes mellitus in die Ordination kommen und hier besser betreut werden können als in einer Einzelordination.
Steinhart: Eine Studie zur Landversorgung zeigt, was passiert, wenn nur Zentren entwickelt werden: Wenn ich für 200 Ortschaften einen Arzt habe und 50 Zentren gründe, die jeweils drei Ärzte haben, dann habe ich plötzlich 150 Orte ohne Arzt. Dasselbe spielt sich in Wirklichkeit auch in der Stadt ab. Die Dichte der Versorgung wird weniger wohnortnah sein, auch die freie Arztwahl wird aufgrund der Größe der Zentren schwieriger. Wir werden uns nicht völlig gegen PHC verwahren. Aber ich glaube trotzdem, dass es wichtig ist, die Hausärzte, die Allgemeinmediziner und Fachärzte wohnortnahe zu erreichen.
Wenn wir bei der wohnortnahen Versorgung einhaken: Wie viel Wegzeit ist dem Patienten zumutbar?
Steinhart: Es liegt in der Würde des Menschen, vor allem bei Älteren, dass er seinen Arzt noch autonom aufsuchen kann. Wenn man das Grätzl wechseln muss, dann ist das nicht gut. Man muss darauf schauen, dass Allgemeinmediziner und Fachärzte in der Stadt gut verteilt sind. Man kann nicht anfangen, mit einer – meiner Ansicht nach – überalterten Retroperspektive Zentren zu gründen.
Bittner: Die Nahversorgung ist in Wien gegeben, mit und ohne PHC. In den ländlichen Gebieten spielt die wohnortnahe Versorgung schon eine wesentliche Rolle. Hier sagt auch der Gesetzgeber, dass die Erreichbarkeit für die regionale Bevölkerung gegeben sein muss. Ob das wirklich immer möglich ist, kann man nicht sagen. Wir haben im ländlichen Bezirk mit Ausnahme eines PHC in Oberösterreich keine Primärversorgungseinrichtung.
Es geht künftig auch darum, die Ambulanzen in den Spitälern zu entlasten. Wie sollten die Schnittstellen zwischen dem intra- und dem extramuralen Versorgungsbereich im Idealfall aussehen?
Bittner: Der Idealfall wäre ein PHC in der Nähe eines Krankenhauses und damit der Ambulanz des Krankenhauses vorgelagert. Das PHC bietet Patienten damit einerseits eine normale Ordination – mit besseren Öffnungszeiten und zusätzlichem medizinischen Fachpersonal – und dient andererseits als Triage (Ersteinschätzung, Anm.), ob Patienten ins Spital und damit in den stationären Bereich kommen, oder in dem PHC behandelt werden können. Das heißt, das PHC übernimmt zum Teil auch ambulante Leistungen des Spitals.
Steinhart: Im Idealfall weiß der Patient, wo er hingehen soll. Da muss man aber auch viel Aufklärungsarbeit tätigen und klarstellen, dass es den Anspruch auf Maximalleistung nicht immer gibt. Wenn ich einen Schnupfen habe, brauche ich keinen HNO-Experten, der auf Operationen spezialisiert ist. Das kann man auch im niedergelassenen Bereich erledigen. Wenn man aber immer nur Lippenbekenntnisse zum niedergelassenen Bereich, nicht wirklich Aufklärungsarbeit macht und die kasseneigenen Zentren propagiert, dann habe ich natürlich ein Problem: Die Patienten begreifen nicht, dass sie nicht in solche Einheiten gehen sollen sondern, in den niedergelassenen Bereich. Das wäre auch viel billiger. In den Ambulanzen haben sie dann aber sechs Stunden Wartezeit.
Herr Bittner hat sich zu Beginn dafür ausgesprochen auch Internisten in den PHC zu integrieren ….
Steinhart: Das ist nicht die ursprüngliche Idee eines PHC Zentrums. Das ist einheitlich eine serielle Schaltung mehrere Allgemeinmediziner. Da ist es klüger, verschiedene Fächer in einer ortsnahen Einheit zusammenzuziehen. Das machen Ärzte bereits autonom selber.
In Wien soll demnächst ein drittes PHC-Zentrum eröffnet werden, in ganz Österreich sollen bis zum Jahr 2021 weitere 75 Primärversorgungseinheiten folgen – ein ehrgeiziger Plan. Was halten Sie davon?
Bittner: Das ist, wie so vieles in Österreich, sehr ambitioniert. Wir schreiben viele Projekte und bringen diese dann nicht auf den Boden. Wo werden die Hürden sein? Wenn ich zum Beispiel ein PHC in einer Gruppenpraxis eröffne, dann benötige ich die Zustimmung des Regionalen Strukturplans Gesundheit. Das bedeutet, dass das Land und die Sozialversicherungen festlegen, dass hier eine Gruppenpraxis in der Form eines PHCs benötigt wird. Das ist möglicherweise schon der erste Streitpunkt – es geht um Geld. Und damit kann es zu Verzögerungen kommen. Wenn sich Land und Sozialversicherung einigen, dann braucht man auch Ärzte und medizinisches Fachpersonal, die bereit sind, in diese Einrichtung zu gehen. Dafür ist noch ein gewisses Umdenken bei den Ärzten erforderlich. Denn mit mehreren Kollegen und Fachpersonal einen medizinischen Betrieb organisatorisch zu führen, ist für viele ein neues Geschäftsfeld. Es hängt auch davon ab, ob es gute Angebote gibt, die für Ärzte medizinisch und ökonomisch attraktiv sind. Wenn all diese Komponenten zusammenpassen, dann wird es funktionieren.
Steinhart: Ich halte nicht viel davon. Man versucht hier eine Ideologie durchzudrücken, von der man noch gar nicht weiß, ob sie bei uns funktioniert. Es ist nun mal der Umgang mit Krankheit im skandinavischen Raum, der immer gern als Beispiel angeführt wird – anders als im mitteleuropäischen Raum. Deswegen glaube ich, dass unser Vorschlag gut war. Machen wir Pilotprojekte, schauen wir wie das funktioniert, was wir davon brauchen können – und dann überlegen wir, wie es weitergeht. Jetzt hat man aber ein Gesetz beschlossen, um eine zentralistische Ideologie durchzudrücken. Die ganze Gesundheitsreform besteht darin, dass Technokraten und Bürokraten die Entscheidungen übernommen haben. Man sollte viel besser darauf hören, was die Ärztinnen und Ärzte zu sagen haben. Ich denke, es ist ganz wichtig, dass man die bestehenden Strukturen weiterentwickelt, aber nicht irgendwelche Pseudorevolutionen, die sich schon 89 erledigt haben.
Herr Steinhart, wie attraktiv sind Ihrer Einschätzung nach die Primärversorgungseinheiten für Ärzte?
Steinhart: Ich glaube, um eine gute Versorgung sowohl für die Patienten als auch für die aktive Ärzteschaft anzubieten, müssen wir multiple Angebote machen. Manche Ärzte arbeiten lieber allein, andere im Verbund oder in Zentren, manche wollen angestellt sein. Es hat sich immer gezeigt, dass eine plurale Lösung der Qualität zuträglich ist.
Noch ein abschließender Blick auf den Hausarzt: Vor welchen Herausforderungen stehen die niedergelassenen Ärzte vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen?
Steinhart: Man muss die Rahmenbedingungen so gestalten, dass es für junge Menschen noch motivierend ist, sich dieser Herausforderung zu stellen. Es kann auch nicht sein, dass Mehrfachbesuche beim niedergelassenen Arzt nicht finanziert werden. Allgemeinmediziner sehen den Patienten 3,8 mal im Quartal. In Wien ist die zweite und dritte Ordination umsonst. Man bräuchte nur diese Positionen honorieren und hätte schlagartig Allgemeinmediziner dafür bezahlt, was sie wirklich tun. Ganz wichtig wäre es auch, wenn wir jetzt endlich eine Lehrpraxisfinanzierung bekämen.
Bittner: Es wird sich nicht viel ändern. Die älteren Ärzte werden in den Einzelordinationen bleiben. Tatsächlich ändern wird es sich bei den nachrückenden jüngeren Ärzten und Ärztinnen. Für sie stellt sich die Frage, ob das PHC oder eine Einzelordination attraktiver ist. Das Problem sehe ich bei der Ausbildung der Allgemeinmediziner, denn in den Spitälern werden derzeit eher Fachärzte ausgebildet. Wenn dann eine Generation in Pension geht, dann haben wir womöglich zu wenig Allgemeinmediziner, um die bestehenden Ordinationen und PHCs zu füllen. Was ich für sinnvoll erachte: Wenn die Krankenversicherungen das klug machen und den PHCs mehr Möglichkeiten einräumen, dann werden sie auch Geld bei den Fachärzten sparen können.
Franz Bittner ist Patientenombudsmann für Wien.
Dr. Johannes Steinhart ist Vizepräsident der Wiener Ärztekammer und Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte.