| Franz Bittner

„Der Patient profitiert“

Bereits Anfang 2005 wurde für Ärzte mit Kassenvertrag die Chefarztpflicht für Medikamente abgeschafft, um bürokratische Hürden für Patienten wie auch für Ärzte zu beseitigen. Seitdem setzt die Oberösterreichische Gebietskrankenkasse (OÖGKK) auf eine Zielvereinbarung, die eine sorgsame Verschreibung von Medikamenten sicherstellen soll. Das Modell funktioniert. Patientenombudsmann Franz Bittner hat nachgefragt: Mag. Dr. Andrea Wesenauer, Direktorin der OÖGKK, erklärt, wie die Vergabe der Medikamente in Oberösterreich geregelt wird, wie Patienten davon profitieren und warum auch für Ärzte dieser Modus zielführend ist.

 

Franz Bittner: In Oberösterreich wurde die Chefarztpflicht abgeschafft. Das bedeutet, der Hausarzt oder Facharzt entscheidet über die Vergabe der Medikamente. Wie hat sich das System bis dato bewährt?

 

Andrea Wesenauer: Sehr gut. Die Zielvereinbarung wird laufend evaluiert, und wir konnten die gesetzlichen Ziele immer erreichen. Ein aktuelles Beispiel zeigt: Im Jahr 2016 verzeichnete die OÖGKK laut Prognose Jänner 2017 eine Steigerung bei den Heilmitteln von moderaten 2,8 Prozent. Damit sind wir im Ranking aller Krankenkassen auf dem zweiten Platz.

 

Franz Bittner: Was hat sich mit dem Wegfall der chefärztlichen Bewilligung für den Patienten konkret verändert?

 

Andrea Wesenauer: Der Patient profitiert durch geringere Wartezeiten: Er kann das ausgestellte Rezept jetzt unmittelbar beim Hausapotheker oder in der nächsten öffentlichen Apotheke einlösen – ohne vorherige Bewilligung. Ein weiteres Plus für den Patienten: Jetzt entscheidet unmittelbar der Vertragsarzt, zu dem der Patient ein persönliches Vertrauensverhältnis hat, ob das Arzneimittel auf Kassenkosten bezogen werden kann oder nicht. Dadurch werden die Entscheidungen in der Regel besser akzeptiert. Überdies steigt die Zeit der ärztlichen Zuwendung für den Patienten, weil der Verwaltungsaufwand für das Einholen der Bewilligung entfällt.

 

Franz Bittner: Die Österreichische Ärztekammer bezeichnet Oberösterreich als positives Vorbild. Welche Faktoren sind aus Ihrer Sicht ausschlaggebend dafür, auf welchen Eckpfeilern fußt das oberösterreichische System ohne Chefarztpflicht?

 

Andrea Wesenauer: Der Schlüssel ist unsere partnerschaftliche Kooperation mit der Ärztekammer für Oberösterreich. Auf dieser Basis übernimmt die Ärztekammer Oberösterreich mit uns gemeinsam ganz konkret Verantwortung, zum Beispiel beim sorgsamen Umgang mit den wertvollen und sensiblen medizinischen Gütern wie etwa Medikamenten. Seit vielen Jahren ist etwa der „Arzneidialog“ etabliert. Das ist ein regelmäßiges Treffen der Spitzenfunktionäre von Ärztekammer und OÖGKK zum Medikamententhema. Zudem arbeiten wir an gemeinsam definierten Zielen über eine Balanced-Score-Card. Denn in Oberösterreich sind beide Partner überzeugt: Ein wechselseitig verantwortungsvolles Verhalten steuert man nicht über Drohungen oder Belohnungen, sondern durch einen gemeinsamen Willen zu sinnvollen Zielen.

 

Franz Bittner: Die Chefarztpflicht erfüllt aber auch eine wichtige Aufgabe. Sie dient dazu, die Vergabe von Medikamenten bzw. die Verschreibung von Therapien zu lenken und zu kontrollieren. Wie gelingt das jetzt bzw. welche Regelungen gibt es stattdessen?

 

Andrea Wesenauer: Wir pflegen eine intensive Kommunikation mit den Ärzten, beobachten und erörtern gemeinsam das laufende Verschreibeverhalten. Das ist die Basis unserer Arbeitskultur. Zudem gibt es eine vertraglich vereinbarte Haftung des Arztes. In groben Zügen erklärt: Der Arzt verpflichtet sich, dass Arzneimittel aus den nicht-grünen Bereichen einen bestimmten Anteil der Gesamtverschreibungen nicht überschreiten – natürlich unter Bedachtnahme auf medizinische Erfordernisse. Diese Regel ist verbindlich, wobei bestimmte Ausnahmen definiert sind, damit die Ärzte zum Beispiel auf belegbare Veränderungen im Medikamentenmarkt oder in der Patientenklientel reagieren können.

Seit 2009 ist zudem geregelt, dass Ärzte bei der Ersteinstellung des Patienten das günstigste wirkstoffgleiche oder wirkstoffähnliche Präparat oder Biosimilar verordnen müssen, außer dies ist im Einzelfall aus medizinischen Gründen nicht möglich, etwa bei bekannten Allergien gegen einen Inhaltsstoff. Bei Folgeverordnungen ist ebenfalls das günstigste wirkstoffgleiche oder wirkstoffähnliche Präparat oder Biosimilar zu verordnen, es sei denn, dies ist aus medizinischen Gründen nicht möglich oder der Preisvorteil bei einer Umstellung wäre nur sehr gering.

Ob Arzneispezialitäten wirkstoffgleich oder wirkstoffähnlich sind, ergibt sich aus der Verfahrensordnung zur Herausgabe des Erstattungskodex bzw. aufgrund des anatomisch-therapeutisch-chemischen Klassifikationssystems der WHO und ist im Datensatz des Hauptverbandes, der als Basis des Ökotools dient, ersichtlich. Um die Verpflichtung einhalten zu können, steht den Vertragsärzten dieses Ökotool über die Arztsoftware oder eine Webversion zur Verfügung. Die Vertragsärzte sind verpflichtet, dieses Instrument in aktueller Fassung bei der Verordnung ihrer Heilmittel zu verwenden.

 

Franz Bittner: Wie reagieren Sie, wenn die Verschreibweise eines Arztes abweicht?

 

Andrea Wesenauer: Bei relevantem Abweichen von dieser Vereinbarung – und wenn es keine rationale Erklärung für diese Abweichung gibt, wie etwa eine Spezialisierung auf bestimmte Krankheitsbilder – setzen wir auf ein mehrstufiges Verfahren zur Problemlösung: Zunächst gibt es ein sogenanntes „Ökonomiegespräch“ zwischen Kasse und Verordner. Dabei wird die Analyse erklärt, und wir erarbeiten gemeinsam Vorschläge zum Nutzen des Einsparpotenzials ohne Qualitätsverlust. Führt dieses Ökonomiegespräch zu keiner Verhaltensänderung beim Arzt, wird ein „Ärztekammergespräch“ zwischen der Ärztekammer und dem Verordner geführt. Überarbeitet der Arzt auch darauf hin seine Verschreibweise nicht, gibt es ein nochmaliges Gespräch der Kasse mit dem Vertragsarzt mit einer verbindlichen Vereinbarung zur Verhaltensänderung. Zeitigt auch dieses Gespräch keinen Erfolg, so müssten wir in letzter Konsequenz ein Verfahren vor der Paritätischen Schiedskommission bzw. der Landesberufungskommission einleiten. So drastische Mittel mussten wir aber in Oberösterreich noch nie ergreifen.

 

Franz Bittner: Die Verantwortung für eine effiziente Verschreibung von Medikamenten liegt beim behandelnden Arzt. Wie zufrieden sind Sie mit der Zusammenarbeit oder gibt es noch Handlungsbedarf?

 

Andrea Wesenauer: Wir sind grundsätzlich zufrieden. Natürlich gibt es da und dort Probleme, diese werden gemeinsam mit der Ärztekammer und durch intensive Kommunikation der OÖGKK mit den betroffenen Ärzten gelöst. Uns ist wichtig, nicht bloß Vorgaben zu machen und zu kontrollieren. Darum investieren wir viel Zeit in die Aufklärung und Beratung der Ärzte und in den Dialog. Dadurch erkennen die Ärzte: „Okay, der OÖGKK geht es hier wirklich um ein sinnvolles Ziel.“

 

Franz Bittner: Glauben Sie, das oberösterreichische Modell ließe sich auch in anderen Bundesländern, zum Beispiel in Wien, umsetzen? Welche Voraussetzungen braucht es dafür?

 

Andrea Wesenauer: In einigen Bundesländern bestimmt. Es braucht das Bewusstsein der Ärzte, dass sie für die Folgekosten verantwortlich sind. Dass ihnen mit dem Recht, auf Kassenkosten Rezepte ausstellen zu können, ein riesengroßer Vertrauensvorschuss entgegengebracht wird. Letztlich stehen OÖGKK und Ärztekammer vor einer Allokationsaufgabe, die beide betrifft: Jeder Euro im System kann nur einmal ausgegeben werden. Fließt er in – oftmals vermeidbare – Folgekosten, dann kann er nicht mehr zum Beispiel als Arzthonorar oder für einen anderen Patienten eingesetzt werden. Und: Ein Zuviel an Medikamenten ist definitiv nicht nur ein Kostenthema: Übermedikation ist nicht nur Verschwendung, sondern in erster Linie gefährlich bzw. schädlich für Patienten, also schlechte Medizin. Wir alle wissen, dass es dieses Problem gibt, es ist aber sehr schwer konstruktiv zu bearbeiten. Umgekehrt müssen teure Medikamente bedarfsgerecht und im richtigen Umfang verordnet werden. Um solche Themen ganzheitlich und offen diskutieren zu können, ohne in wechselseitigen Schuldzuweisungen stecken zu bleiben, braucht es ein gutes Gesprächsklima, Vertrauen, Transparenz und Fair-Play. Daran arbeiten Ärztekammer und OÖGKK jeden Tag.

 

Zur Person: Mag. Dr. Andrea Wesenauer fungiert seit Jänner 2011 als Direktorin der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse. Wesenauer startete 1994 ihre Laufbahn bei der OÖGKK zunächst im Bereich Controlling. Zwei Jahre später übernahm sie die Leitung der Abteilung Betriebswirtschaft, ab 2004 verantwortete Wesenauer als Ressortdirektorin die Bereiche Kundenservice und eigene medizinische Einrichtungen. Seit 2007 ist sie auch Managerin der Controllinggruppe der österreichischen Sozialversicherung. Andrea Wesenauer studierte Betriebswirtschaft in Linz sowie Organisationsentwicklung an der Universität Klagenfurt.